Die Lebensverhältnisse auf den Baustellen
Auf den Tunnel-Baustellen in Göschenen und Airolo arbeiteten bis zu 3305 (Göschenen 1877, Airolo 1428) Arbeiter.
![]() Anzahl der Arbeiter auf den Tunnelbaustellen |
![]() Altersstruktur der Arbeiter |
Zahlen nach K. Kuoni
Die Fluktuation der Arbeiter war sehr gross. So betrug im Jahr 1875 die Quote 375 Arbeiter.
Allerdings weiss man auch von Arbeitern, die während der ganzen Bauzeit ihr Leben in Göschenen oder Airolo verbrachten.
94 % der Arbeiter stammten aus Oberitalien, insbesondere aus dem Piemont.
30,8 % der Arbeiter waren verheiratet, 69,2 % ledig.
Bei der Arbeit am Tunnel starben gemäss Aufzeichnungen der Gotthardbahn-Gesellschaft 177 Arbeiter. Diese Zahl stimmt sicherlich nicht. Nach einer Zusammenstellung von K. Kuoni verloren nachweislich 199 Menschen ihr Leben.
Ob diese Zahl stimmt, ist allerdings auch fraglich. Der Arzt der Gotthardbahn-Gesellschaft in Göschenen, Dr. Foderé, schreibt von 2 - 3 getöteten Arbeitern monatlich. Rechnet man diese Zahl auf beide Baustellen hoch, dann käme man über die ganze Bauzeit (90 Monate) auf über fünfhundert tote Arbeiter.
Die häufigsten Unfall-Ursachen waren:
Wie viele Arbeiter erst nach ihrer Rückkehr zu Hause an der Mineurskrankheit oder an einer Staublunge verstarben, ist nicht feststellbar. Ihre Zahl dürfte aber ebenfalls hoch sein.
Laut Statistik der Gotthardbahn-Gesellschaft wurden 454 Arbeiter sehr schwer verletzt. (abgetrennte Glieder, bleibende Lebensbeeinträchtigung)
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Für die Arbeiterkinder wurden durch die Baugesellschaft Favre Schulen eingerichtet. In Göschenen wurde der Schulunterricht in Italienisch (Arbeiterkinder?) und Französisch (Kinder der Bauleitung?) erteilt.
Der Arbeitsvorgang im Tunnel
Der Tunnel wurde in sechs Arbeitsschritten ausgebrochen:
Die ersten drei Stufen des Ausbruchs, Pläne der Baugesellschaft Favre
Im Richtstollen lag eine Dienstbahn. Auf dieser wurde das Bohrgestell mit den Druckluft-Bohrmaschinen bis zur etwa sechs Quadratmeter messenden Stollenbrust geschoben.
Beispielbild
Hinter dem Bohrgestell befand sich auf einem Wagen ein Reservoir mit Wasser zum Einspritzen in die Bohrlöcher (Verminderung des Bohrstaubs). Hinter diesem Reservoirwagen folgte ein flacher Rollwagen. Auf diesem lagen Ersatzbohrmaschinen, die nötigen Ersatzbohrer und die Werkzeuge.
Auf dem Bohrmaschinenposten arbeiteten 16 Mann:
Auf dem 5 t schweren Bohrgestell befanden sich meistens sechs manchmal auch acht Bohrmaschinen.
Nachdem das Gestell unterkeilt und der Luftschlauch an die Luftleitung angeschlossen war, wurden die Lufthahnen geöffnet und die Maschinen begannen mit der Bohrung.
Die vorn am Bohrgestelle postierten Arbeiter führten beim Anbrüsten die Bohrer. Dabei wurden die Bohrer für die mittleren Löcher senkrecht auf die Angriffsfläche angesetzt. Die gegen die Sohle und den First des Stollens gelegenen Löcher dagegen waren mit Winkeln von 60 bis 85° gegen die Stollenbrust geneigt.
Zwischendurch wechselten sie stumpf gewordene Bohrer aus.
Am Bohrgestell sorgten andere Arbeiter durch Drehung an einer Kurbel dafür, dass die Bohrer immer in Kontakt mit der Felswand blieben.
Spätere Maschinentypen nahmen diese Nachstellung selbst vor.
In der durchschnittlich 4 - 5 Stunden dauernden Bohrphase wurden 20 bis 27 Löcher mit einer mittleren Tiefe von 1 bis 1,2 Meter gebohrt.
War dieser Vorgang beendet, zog man den Bohrzug von der Stollenbrust bis zum nächsten Ausweichgeleise - gut 100 Meter weit - zurück und stellt ihn dort ab.Beispielbild
Um die Arbeiter bei den nachfolgenden Sprengungen gegen herumfliegende Gesteinsbrocken zu schützen, wurde der Rollwagen und das Wasserreservoir vor das Bohrmaschinengestell manövriert.
Während der nun folgenden Bohrpause reinigten die Mineure die auf dem Gestell befindlichen Bohrmaschinen. Auch notwendig gewordene kleinere Reparaturen nahmen sie vor.
War der Bohrzug weggestellt, begann der 22 Mann starke Lade- und Schutterposten (Arbeitsgruppe) seine Tätigkeit.
Die Sprengmeister luden nun zuerst die oberen und mittleren Löcher mit rund je 1 kg Dynamit und schossen diese mit gleich langen Zündschnüren möglichst gleichzeitig ab. War genügend Druckluft vorhanden, wurden nun an den Druckluft-Zuleitungen Hahnen geöffnet, um die giftigen Sprenggase aus dem Tunnel zu blasen. (Bei fehlender Druckluft unterblieb dies oft.)
Nun lösten die Schutterer das an der Stollenbrust gelöste, aber nicht weg geschleuderte Gestein mit Keilhauen und Brechstangen. Anschliessend schoben sie die im Stollengeleise bereit gehaltenen Rollwagen vor Ort und verluden den Schutt mit Hilfe von Handkörben in die bereitstehenden Loren.
Weil sich Favre für einen Firststollen entschieden hatte, musste der Ausbruch mühsam auf die tiefere Ebene gebracht werden. Anfänglich geschah dies über Rampen. Später wurden diese durch druckluftbetriebene Hebewerke (Elevatoren) ersetzt. Da diese sehr oft ausfielen, kehrte Favre zum Rampensystem zurück.
Diese Rampe wies eine Steigung von 30 ‰ auf. Unter- und oberhalb der Rampe befanden sich Ausweichgeleise zum Wechsel der vollen und leeren Wagen.
Zuerst wurden die vollen Wagen in zusammengestellten Zügen die Rampe hinab gelassen. Dann wurden die leeren Wagen durch Pferde aus dem Nebengeleise aufwärts gezogen und an die verschiedenen Arbeitsorte in der Erweiterung und vor Ort gebracht.
Eine Druckluftlok wird im Tunnel aufgetankt
Vom Fusse der Rampe bis zum Tunnelportal beförderten während den Sommermonaten Druckluft-Lokomotiven die vollen Wagen.
Beim Tunnelportal befand sich eine der Luftentnahmestellen, um die Drucklufttanks wieder aufzufüllen.
Im Winterhalbjahr dagegen, wenn komprimierte Luft nicht in genügendem Masse vorhanden war (Wassermangel), übernahmen diese den Transport nur bis zum 157 m³ fassenden Druckluftreservoir, welches jeweils etwa 1000 m hinter der Stollenbrust lag.
Arbeiter mit Materialwagen
vor dem Portal Göschenen.
Wurde die Rampe versetzt, wurde auch die Luftleitung und das Reservoir weiter vorgezogen, so dass die Dampflokomotiven im Winter eine entsprechend weitere Fahrstrecke übernehmen mussten.
In Göschenen ergab sich im Bereich des km 2,8 (Ursernmulde) ein Problem mit sehr druckhaftem Gestein. Man musste an dieser Stelle verstärkte Abstützungen vornehmen, so dass eine starke Verengung entstand, welche ein Durchfahren mit Dampf- oder Druckluftlokomotiven verunmöglichte. Deshalb wurde eine Druckluftlok zerlegt und vor dem Engpass wieder zusammengebaut.
Zwischenzeitlich zogen Pferde die Loren durch den Engpass.
War im Richtstollen alles Gestein weggeräumt, verlängerte der Schutterposten das Rollbahngeleise bis zur Stollenbrust und half dem gleich darauf antretenden zweiten Maschinenposten, das Bohrgestell mit allem Zubehör wieder vor Ort zu bringen.
Die Arbeiten des Lade- und Schutterpostens nahmen jeweils einen Zeitraum von 4 – 5 Stunden in Anspruch.
Mit zunehmender Routine der Arbeiter verkürzten sich diese Arbeitszeiten.
In Göschenen dauerte der beschriebene Arbeitsprozess mit Bohren, Abschiessen und Wegräumen beispielsweise im April 1873 im Schnitt 17 Std. 20 Min., im Dezember 1873 nur noch 8 Std. 39 Min. und im Dezember 1975 noch 7 St. 32 Minuten.
In Airolo benötigte man im Juli 1873 durchschnittlich 10 Std. 39 Min., im Dezember 1873 noch 9 Std. 42 Min. und im Dezember 1875 noch 6 Std. 57 Minuten.
Eine Druckluftlokomotive fährt in Airolo mit dem Lorenzug in Richtung Tunnel
Im Jahre 1877 stellte Favre die Arbeit im Richtstollen vom Einschicht- auf den Zweischichten-Turnus um.
Da inzwischen die Anmarschzeit über eine Stunde betrug, ersparten sich die Arbeiter so einen Arbeitsweg.
Nach dem Einmarsch arbeiteten die Mineure 4 - 5 Stunden an der Bohrmaschine.
Während der Sprengung und dem anschliessenden Abräumen durch die Schutterer hatten sie 4 Stunden Pause.
Dann erfolgte die zweite Schicht von 4 - 5 Stunden an der Bohrmaschine.
Anschliessend kehrten sie zu Fuss nach Göschenen in ihre Unterkunft zurück.
Die Arbeitsverhältnisse vor Ort übersteigen unsere Vorstellungskraft. Die Temperatur im Richtstollen stieg 1879 auf bis zu 32,9° C an, die Luftfeuchtigkeit betrug meistens 99,6%.
Zeitgenössischen Schilderungen ist zu entnehmen, dass die Arbeiter oftmals auf die Bekleidung verzichteten und nackt, nur mit ihren Schuhen bekleidet arbeiteten.
Arbeiter mit Öllampe
Die hygienischen Verhältnisse im Tunnel waren katastrophal. Die Arbeiter verrichteten ihre Notdurft an ihrem Arbeitsort.
Die Geruchsmischung aus Sprenggasen, Schweiss, menschlichen und tierischen Exkrementen war penetrant und haftete den Arbeitern auch in ihrer Freizeit an.
Die hohen Temperaturen und die Feuchtigkeit waren ideale Voraussetzungen für die Vermehrung von Krankheitserregern aller Art. Weil sich die Arbeiter in ihren Arbeitspausen in dieser Umgebung verpflegten war der Verbreitung von Krankheiten Tür und Tor geöffnet. Diese Umstände dürfte denn auch zu einer starken Verbreitung der "Mineurskrankheit"
(Blutarmut durch den Befall des Hakenwurms Anchylostomum duodenale)
ab 1880 beigetragen haben.
Alle Arbeiter erhielten einen Ausweis, den sie immer
auf sich zu tragen hatten.
Preisliste | |
Lebensmittel | pro kg/l |
Brot | 0.56 Fr. |
Butter | 2.60 Fr. |
Santos Kaffee | 2.90 Fr. |
Schweizer Käse | 1.40 Fr. |
Schweinefett | 1.30 Fr. |
Polentagries | 0.36 Fr. |
Teigwaren | 0.76 Fr. |
Zucker | 1.10 Fr. |
Reis | 0.50 Fr. |
Piemonteser-Wein | 0.70 Fr. |
Viele der Arbeiter lebten während den Bauarbeiten in recht kümmerlichen Verhältnissen.
Die Baugesellschaft Favre stellte in Göschenen und in Airolo viel zu wenig Unterkünfte zur Verfügung. Diese wurden vorwiegend Arbeitern vermietet, die ihre Familie mitgebracht hatten.
Ledige Arbeiter waren deshalb auf private Unterkünfte angewiesen.
Zeitweise wurden von den 300 Einwohnern Göschenens beinahe 1700 Arbeiter beherbergt.
Viele Private vermieteten ihre vorhandenen Räumlichkeiten an Spekulanten, meistens selber Italiener.
Dabei wurde jeder Raum genutzt, in welchem man mit einigen Brettern Bettverschläge zimmern konnte. Diese Spekulanten vermieteten diese provisorischen Betten den Arbeitern als "Logisgänger" weiter. Dabei kam es teilweise sogar zu Mehrfachvermietungen und es teilten sich bis drei Arbeiter ein Bett (drei Arbeitsschichten). So wohnten in einem Haus in Göschenen über 200 Arbeiter.
Teilweise herrschten in diesen Logis fürchterliche hygienische Zustände. So fehlte es in den Häusern an Toiletten. Weil die Arbeiter deshalb die Fenster als Toiletten benutzten, begannen die Vermieter die Fenster zuzunageln, weshalb eine Lüftung der Räume unmöglich wurde. Die Arbeiter verrichteten vielerorts ihre Notdurft einfach in einer Zimmerecke.
"Ersatzgeld" der Firma Favre, hier für 1 Franken
Auch der Verkauf der Lebensmittel an die Arbeiter führte zu unhaltbaren Zuständen.
Deshalb sah sich die Firma Favre gezwungen, Massnahmen zu ergreifen.
Um der Preistreiberei der Händler Einhalt zu gebieten, eröffnete die Firma eigene Magazine. In diesen konnten die Arbeiter zu vernünftigen Preisen ihre Lebensmittel erstehen. Die Gesellschaft begann gleichzeitig auch, den Arbeitern einen Lohnanteil in Form von Gutscheinen für diese Magazine auszuzahlen.
Anfänglich wurden diese Gutscheine auch in den übrigen Geschäften und in den Gaststätten von Göschenen in Zahlung genommen und durch die Firma Favre dann in Geld umgetauscht. Da aber auch hier Unregelmässigkeiten auftraten, beendete die Firma diese Umtauschmöglichkeit.