Favre's Tod
Die Gesundheit Louis Favre's vermochte den Aufregungen, aber auch den ständigen Anfeindungen, nicht standzuhalten.
Am 19. Juli 1879 begab sich Favre mit dem befreundeten Oberingenieur der Paris-Lyon-Mittelmeerbahn und Oberingenieur von Stockalper in Göschenen in den Tunnel. Auf dem Rückweg von der Stollenbrust, im Bereiche der Druckzone bei Km 2,8, klagte Favre über Müdigkeit. Er setzte sich hin und bat seine beiden Begleiter, doch schon weiter zu gehen.
Favres Tod im Tunnel, Gemälde H. van den Muyden
Wie weit die Belastung und Anspannung des Tunnelbaues mit zu Favre's Tod beigetragen hat, lässt sich nicht sagen. Favre trug dieses Risiko zeitlebens mit sich herum. Irgendwann hätte ihn dieser Tod wohl so oder so ereilt.
Favre in seinem Büro
Er ging, seinem Naturell entsprechend, wohl davon aus, dass er die Fesseln des Vertrages - wenn die Arbeitsfortschritte eine bestimmte Länge überschritten hätten - ohne Folgen würde zu seinen Gunsten ändern können.
Auf Grund dieser Taktik Favres kam es im Verlaufe der Zeit auch zu fünf Nachtragsverträgen mit Änderungen der Vertragsbedingungen. Allerdings gaben diese Favre nicht die gewünschte Handlungsfreiheit.
Verrechnet hat sich Favre nämlich weniger an der Härte des Gesteins, als vielmehr an der Härte der "Allmands", die eisern auf ihren Verträgen, Abmachungen und Vorgaben beharrten.
Gefehlt hat es bei Favre nicht an fachlichem Können. Fachleute attestieren ihm aus heutiger Sicht, alle wichtigen baulichen Entscheidungen richtig getroffen zu haben.
Was Favre fehlte, war das nötige Organisationstalent. Er war ein Mann der Tat, aber kein Organisator und langfristiger Planer. Probleme wurden nach favre'scher Lesart dann zielgerichtet gelöst, wenn sie anstanden.
Hätte sich Favre, für die Administration eine Fachkraft zugelegt - wie er das bezüglich der Drucklufttechnik mit Colladon getan hat - dann hätte möglicherweise das Werk sogar in der offerierten Frist gelingen können.
Nach dem Tod Favres herrschte grosse Unsicherheit, über die Zukunft des Werkes.
Schliesslich erklärte die Tochter Favres, sie würde das Erbe annehmen und das Werk ihres Vaters zu Ende führen.
Damit übernahm sie auch alle Verpflichtungen und Verträge Favre's bezüglich des Gotthardtunnels, obwohl der Bankrott bereits absehbar war.
Sie bezeichnete Oberingenieur Eduard Bossi als obersten Verantwortlichen und übertrug ihm die Vollendung des Werkes.
An seiner Stelle übernahm Ing. Maury den Posten des Oberbauleiters in Airolo.
Der Durchbruch
Allmählich rückte der Termin des Durchstichs immer näher, die errechnete Differenz zwischen den beiden Richtstollen im Norden und im Süden wurde immer kleiner. Eigentlich müssten sie sich allmählich im Berg gegenseitig hören können.
Hatten sie sich verfehlt?
Trieben sie die Tunnels aneinander vorbei?
Das Thema wurde in der Weltpresse genüsslich breit getreten. Die Aktien der Gotthardbahngesellschaft sanken erneut auf einen Tiefpunkt.
In Göschenen und Airolo wurden die Arbeiten unterbrochen, um die Tunnelachse erneut nachmessen zu können. Termingerecht würde der Tunnel sowieso nicht mehr fertig werden, obwohl sie mit dem Ausbruch der Richtstollen im Terminplan waren.
Nach vier Tagen folgte die Erleichterung: die Tunnelachsen stimmen.
Der Fehler musste an der errechneten Länge des Tunnels liegen.
Die Arbeit wurde wieder aufgenommen. Dann endlich! In den Tagen vor Weihnachten des Jahres 1879 meinten Arbeiter im Richtstollen von Göschenen ein dumpfes Grollen im Berg gehört zu haben.
In der Nacht vom 24. Dezember meldete sich der Berg erneut.
Eine rasche telegrafische Nachfrage in Airolo bestätigte: in Airolo hatten sie im Richtstollen abgeschossen (gesprengt).
Also doch! Jetzt war man sich immerhin sicher, dass man sich näherte.
Ein tolles Weihnachtsgeschenk für die Ingenieure und Arbeiter.
Auf der Nordseite arbeiteten am 28. Februar die beiden Mineure Necaraviglia und Chirio am Bohrgestell.
Auf der Südseite wollten die Mineure gerade ihre Bohrer für die nächste Bohrung ansetzten, als einige Felsstücke von der Stirnwand fielen und ein Bohrer, sich drehend, aus der Tunnelwand ragte.
Die Arbeiter jubelten und fielen sich um den Hals.
Der Gotthard war bezwungen.
Auf der Rückseite stand in französischer Sprache:
"Wer wäre würdiger, als erster hindurch zu gehen.
Er war unser Meister, Freund und Vater.
Viva il Gottardo!"
Bezüglich dieses Vorganges bin ich aus privater Quelle an Informationen gelangt, welche für diesen Vorgang einen etwas anderen Verlauf schildern.
Leider wurde mir aus unerfindlichen Gründen untersagt, diese neuen Erkenntnisse hier als Erster zu veröffentlichen.
Freude über den Durchstich bei den Mineuren
Die Leitung der Tunnelbaugesellschaft Favre erwartete den Durchstich in den ersten Märztagen.
Deshalb waren bereits am Samstag, 28. Februar die Gasthäuser in Göschenen und Airolo von Journalisten aus aller Welt überfüllt.
Obwohl der Durchstich jederzeit erwartet wurde, schlug die Nachricht vom erfolgten Durchstich wie eine Bombe ein.
Ein Augenzeuge aus Göschenen berichtet:
Wir sassen in Göschenen im Rössli am Essen, als ein Arbeiter das Wirtshaus betrat und dem Sektions-Ingenieur Stockalper einen Zettel mit einer Mitteilung überbrachte.
Stockalper erhob sich und plötzlich trat Stille im Wirtshaus ein, dann stiess er aufgeregt die Worte aus: 'Messieurs, la sonde a passé!'
Nun brach ein unbeschreiblicher Jubel aus."
![]() Telegramm des Abschnittsingenieurs Nord Zollinger an die Direktion der Gotthardbahn-Gesellschaft am 28. Februar 1880, um 21 Uhr.
Der erste Bohrer hat soeben die Scheidewand
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Telegramm Zollingers am Morgen
Sonde hat gestern Abend 6 ¾ Uhr Scheidewand passiert. Nach derselben ist Durchschlag-differenz quasi null. Soeben 5 ½ Uhr morgens Einfahrt zum Beginn der letzten Bohrung.
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Am nächsten Tag, es war am Sonntag den 29. Februar 1880 um 11 Uhr 15, wurde die letzte Wand weggesprengt.
Die Ehre, diese Sprengung zu zünden fiel Mineur Vercelli zu. Er hatte bereits am Mont Cenis den Durchschlag gesprengt.
Die Vermessungs-Ingenieure der Gotthardbahn-Gesellschaft mit ihren Messinstrumenten und Telegraphen.
Noch grandioser wird das Ergebnis, wenn man es mit der Neuzeit vergleicht: Der Abschnitt des NEAT-Tunnels Bodio-Faido von rund 15 km Länge wurde mit einem seitlichen Fehler von 10 cm durchschlagen. Und das im Zeitalter der Präzisionsinstrumente und Laserführung.